Description: Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt Halle, Heft 1/2020: 501–504 30 Ohrwürmer (Dermaptera) Bearbeitet von Michael Wallaschek unter Mitarbeit von Björn Schäfer und Roland Schweigert (3. Fassung, Stand: Dezember 2018) zeigt sich die heimische wildlebende Ohrwurmfauna zudem in ihrer Zoogeographie und Ökologie erstaun- lich vielfältig (Wallaschek 1998). Die zoo- oder pantophage Ernährungsweise hat Untersuchungen zum Einsatz von Dermapterenarten, darunter auch heimischen, für die biologische Schäd- lingsbekämpfung angeregt (Caussanel & Albouy 1991). In der Kleingartenpraxis wird der bekannte Gemeine Ohrwurm, Forficula auricularia L., 1758, mancherorts bereits in diesem Sinne gefördert. Gelegentlich mag er aber auch als Pflanzen- oder Vorratsschädling, Läst- ling und in seltenen Fällen durch Verschleppen von Krankheitserregern der Kulturpflanzen und des Men- schen in Erscheinung treten (Beier 1959). Nicht unerwähnt soll bleiben, dass den heimi- schen Dermapterenarten, -faunen und -taxozönosen Zeigerfunktion für die Landschaftsstruktur, den Grad des anthropogenen Einflusses und einzelne ökologi- sche Faktoren zukommen kann. Somit lassen sie sich durchaus im Rahmen der Bioindikation in der Land- schaftsplanung einsetzen (Wallaschek 1998). Einführung Die ersten Funde von Ohrwürmern datieren aus dem Erdmittelalter. Im erdneuzeitlichen Bitterfelder Bern- stein finden sich Dermaptera aus der Familie Forfi- culidae, die auch heute in Sachsen-Anhalt Vertreter besitzt. Die weltweit etwa 1.300 rezenten Ohrwurm- arten (Günther 2000) sind Dämmerungs- und Nacht- tiere, die zugleich eine hohe Luftfeuchtigkeit verlan- gen. Sie bevorzugen Schlupfwinkel, in denen sie mit möglichst vielen Körperseiten oder -stellen Kontakt mit dem umgebenden Substrat haben. Angegriffen, wehren sie sich durch Kneifen mit den für dieses Taxon charakteristischen Zangen und durch Absonde- rung eines die Haut ätzenden Sekretes. Aktuell sind aus Deutschland zehn sich hier fort- pflanzende Ohrwurmarten bekannt, davon sieben wildlebende indigene und drei synanthrope, zu- mindest zeitweilig etablierte (Matzke & Köhler 2011, Matzke & Neumann 2017). Angesichts dieser geringen Artenzahl sowie der auf Ekel und Angst beruhenden Einstellung vieler Menschen diesen Tieren gegenüber kann das mangelnde Interesse an den Dermapteren nicht verwundern. Allerdings hat sich herausgestellt, dass heimische Ohrwurmarten in bestimmten Lebensräumen zu den dominanten Tierarten oder -gruppen hinsichtlich Siedlungsdichte und Biomasse gehören können (Ellen- berg et al. 1986). Von einzelnen Dermapterenarten ist bekannt, dass sie sehr spezielle ökologische Ansprü- che besitzen (Harz 1957). Bei genauerer Betrachtung Datengrundlagen Zur Dermapterenfauna Sachsen-Anhalts zählen nach bisheriger Kenntnis fünf Arten (Wallaschek et al. 2004, Wallaschek 2013, 2016). Diese Arbeiten enthalten die aktuelle Checkliste sowie die Liste der faunistischen Primärliteratur und wichtiger Beiträge der Sekundär- literatur über die Ohrwürmer in Sachsen-Anhalt. Die Systematik und Nomenklatur der Dermaptera richtet sich im Folgenden nach Harz & Kaltenbach (1976) und Klaus (2010). Hinsichtlich der deutschen Namen fol- gen wir Harz (1957). Für die Synonyma wird auf Zacher (1917), Harz (1957) und Harz & Kaltenbach (1976) ver- Tab. 1: Übersicht zum Gefährdungsgrad der Ohrwürmer Sachsen-Anhalts. Gefährdungskategorie Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) 0 - - R - - 1 - - 2 1 20 3 - Rote ListeGesamt 1 205 Tab. 2: Änderungen in der Anzahl der Einstufungen in die Gefährdungskategorien im Vergleich der Roten Listen der Ohrwürmer Sachsen- Anhalts in den Jahren 2004 und 2020. Gefährdungskategorie 0 – Ausgestorben oder verschollen R – Extrem seltene Arten mit geographischer Restriktion 1 – Vom Aussterben bedroht 2 – Stark gefährdet 3 – Gefährdet Gesamt Rote Liste 2004 (AZ = 5) (absolut) (%) - - - - - - 1 20,0 - - 1 20,0 Rote Liste 2020 (AZ = 5) (absolut) (%) - - - - - - 1 20,0 - - 1 20,0 501 Ohrwürmer Abb. 1 & 2: Der Sand-Ohrwurm (Labidura riparia) bewohnt fast vegetationslose, gut durchwärmte, oberflächlich schnell abtrocknende Sandflächen an Flussufern und auf Binnendünen, heute meist in Braunkohletagebauen, Sandgruben und Truppenübungsplätzen; sie ist be- sonders durch Rekultivierung, Flutung und Sukzession der Lebensräume bedroht. – 1: Männchen (Zangen mit erhabenem Innenzahn); die Tiere sind individuell sehr variabel gefärbt (Foto: D. Rolke) – 2: Weibchen (Zangen ohne erhabenen Innenzahn). 25.8.2013, Tagebau-Restloch Domsen bei Hohenmölsen/Sachsen-Anhalt (Foto: D. Klaus). wiesen. Die letzten beiden Bücher sowie Götz (1965) sind wichtige Bestimmungswerke. Bemerkungen zu ausgewählten Arten, Gefähr- dungsursachen und Schutzmaßnahmen Die meisten Ohrwurmarten Sachsen-Anhalts, nämlich Labidura riparia (Pallas, 1773), Labia minor (L., 1758) und Forficula auricularia L., 1758, sind kosmopolitisch verbreitet. Chelidurella guentheri Galvagni, 1994 und Apterygida media (Hagenbach, 1822) sind hingegen 502 auf Europa beschränkt (Harz 1960, Harz & Kaltenbach 1976). Da sich der faunistische Kenntnisstand über die heimischen Dermapterenarten deutlich verbessert hat (Wallaschek 2013), kann eingeschätzt werden, dass die letzten vier Arten in Sachsen-Anhalt verbreitet bis sehr weit verbreitet vorkommen und nicht bestandsgefähr- det sind (Wallaschek 2016). Obschon der Sand-Ohrwurm, Labidura riparia, kosmopolitisch verbreitet ist, reicht er in Europa nördlich der Alpen lediglich bis zur Nord- und Ost- see und ist in Deutschland aktuell nur selten (Harz Ohrwürmer & Kaltenbach 1976, Matzke & Köhler 2011). In Mittel- deutschland häuften sich aber in letzter Zeit durch die Intensivierung der Beobachtungstätigkeit Funde aus Braunkohletagebauen, Kies- und Sandgruben sowie Truppenübungsplätzen (Matzke & Klaus 1996, Wallaschek 1999). In Sachsen-Anhalt wird die Art ebenfalls schon seit langem hauptsächlich in solchen Sekundärlebensräumen gefunden (Wallaschek 2000), doch liegen z. B. vom Elbufer oder von Binnendünen Beobachtungen vor (Wallaschek 2013). Labidura riparia lebt im Allgemeinen in fast vege- tationslosen, gut durchwärmten, oberflächlich schnell abtrocknenden Sandflächen. Häufig, aber bei weitem nicht immer, weisen die Flächen einen hohen Grund- wasserspiegel (oft Gewässerufer) oder eine höhere Bodenfeuchtigkeit über stauenden Schichten auf. In solchen Plätzen hält sich der Sand-Ohrwurm unter Steinen, Holzstücken, Blech- und Plastteilen etc. auf, wo sich eine höhere Feuchtigkeit als in der Umgebung einstellt und auch bestehen bleibt (Wallaschek 1999). Weidner (1941) nimmt als pleistozäne Refugialräume des Sand-Ohrwurmes Südwest- und Osteuropa an. Die postglaziale Rückwanderung in den nord- und mittel- deutschen Raum sei entlang der Urstromtäler, in die sich auch das Elbtal einordnet, erfolgt. Heute spielt wohl für die Ausbreitung der Art, insbesondere bei der Besiedlung von Sekundärlebensräumen, Anthropocho- rie eine große Rolle (Wallaschek 1999). Durch den Mangel an natürlicher Flussdynamik werden heute nur im Ausnahmefall neue primäre Tro- ckenbiotope in den Flusstälern des Landes geschaf- fen, die den Ansprüchen von Labidura riparia genü- gen. Auf solche Lebensräume wird beim Flussausbau bisher wohl kaum Rücksicht genommen. Die Sekundärlebensräume des Sand-Ohrwurmes verlieren durch Vermüllung, Rekultivierung (Auffors- Art (wiss.) Labidura riparia (Pallas, 1773) tung, Ansaat von Grasmischungen), Flutung, Aufga- be oder Reduzierung der militärischen Nutzung und natürliche Sukzession der Pflanzenbestände schnell an Wert für die Art. So gingen im letzten Jahrzehnt durch mangelnde Kenntnis oder Rücksichtnahme sowie das Fehlen geeigneter Schutz- und Pflegemaß- nahmen zunehmend Lebensräume verloren. Zudem schafft der Braunkohlenbergbau in Sachsen-Anhalt bei weitem nicht mehr so viele Sekundärlebensräume wie im letzten Jahrhundert. Deshalb ist zu befürch- ten, dass viele verbliebene Sand-Ohrwurm-Bestände in den nächsten Jahrzehnten verschwinden. Daher sollte die natürliche Flussdynamik geför- dert und die Erhaltung der Sandufer und von Sand- bänken ebenso gewährleistet werden wie die von Binnendünen. Bepflanzung solcher Flächen ist zu unterlassen. Auf den Flussausbau muss soweit wie möglich verzichtet werden. Die Sekundärlebensräume sollten möglichst vor Vermüllung, Aufforstung und Ansaat von Gras- mischungen geschützt werden. Stehen ausreichend Flächen zur Verfügung, wie z. B. auf Truppenübungs- plätzen, in großen teilweise aufgelassenen Sandgru- ben oder in Naturschutzgebieten, kann durch umlau- fendes abschnittsweises Abschieben des Oberbodens Erhaltungspflege betrieben werden. Auch kleinere Sekundärlebensräume sollten naturschutzrechtlich gesichert und durch Pflege oder besser Nutzung (z. B. Austrag kleiner Mengen von Sand für gemeindliche Zwecke wie Wegebau) erhalten werden. Danksagung Für die informativen Fotos in dieser Arbeit wird Dr. Daniel Rolke, Landsberg, und Dietmar Klaus, Rötha, sehr herzlich gedankt. Art (deutsch) Sand-Ohrwurm Kat. 2 Bem. V, A Nomenklatur nach Harz & Kaltenbach (1976) und Klaus (2010). Abkürzungen und Erläuterungen, letzter Nachweis/Quelle (Spalte „Bem.“) V – Verbreitungsschwerpunkt in Sachsen-Anhalt A – Arealrand Literatur Beier, M. (1959): Ordnung: Dermaptera (Degeer 1773) Kirby 1813. – In: Dr. H. G. Bronns Klassen und Ord- nungen des Tierreichs, 5. Bd: Arthropoda, III. Abt.: Insecta, 6. Buch, 3. Lieferung, Orthopteroidea. – Geest & Portig K.-G., Leipzig: 455 –585. Caussanel, C. & V. Albouy (1991): Dermapteres de France, ravageurs et auxiliaires. – Bull. Soc. zool. Fr. 116: 229 –234. Ellenberg, H., Mayer, R. & J. Schauermann (Hrsg.) (1986): Ökosystemforschung. Ergebnisse des Sollingpro- jekts 1966 –1986. – Eugen Ulmer Verlag, Stuttgart. Götz, W. (1965): Orthoptera, Geradflügler. – In: Brohmer, P., Ehrmann, P. & G. Ulmer: Die Tierwelt Mitteleuropas. – Quelle & Meyer, Leipzig. Günther, K. (2000): Ordnung Dermaptera – Ohrwür- mer. – In: Urania-Tierreich. Insekten. – Urania-Ver- lag, Berlin: 73 – 80. 503
Types:
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2020-08-31
Modified: 2020-08-31
Time ranges: 2020-08-31 - 2020-08-31
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